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Geschichte...
 

Der Mythos Sisi

Immer wieder wird von einzelnen Personen die Feststellung aufgeworfen, dass die Reitkostüme jener Damen, die im Damensattel bei Vorführungen oder Turnieren starten, weder historisch sind, noch den Richtlinien der ÖTO entsprechen.

Seit 2002 darf bei Turnieren auch im Damensattel gestartet werden. Für eine korrekte Bekleidung wurde dafür in der ÖTO ein eigener, neuer Abschnitt eingefügt. Im Unterschied zu Turnieren im Herrensattel, wo die Farbe von Reithose und Reitjacke sehr eng vorgegeben ist, gilt beim Reitkostüm für den Damensattel nur die Richtlinie einer gedeckten Farbe.
Lt. Duden ist eine gedeckte Farbe eine blasse oder matte Farbe, nicht leuchtend und nicht durchsichtig.


 

Bei der Frage, welche Kostüme historisch sind, gibt es zwei unterschiedliche Auffassungen: die einen, die sich an das Vorbild Kaiserin Elisabeths halten und demzufolge Reitkostüme in jenen Farben bevorzugen, wie man Sisi von Fotografien und Bildern her kennt: schwarz bzw. grau, auf jeden Fall aber dunkle und sehr gedeckte Farben, die anderen, die den Standpunkt vertreten, dass früher in Alltagskleidung geritten wurde und die eigens gefertigten Reitkleider sich ausschließlich im Schnitt von der je nach Stand üblichen "normalen" Kleidung unterschieden.

Dazu lässt sich folgendes sagen:

Die Kaiserin Elisabeth von Österreich, Elisabeth Amalie von Wittelsbach, genannt "Sisi" (24.12.1837 – 10.09.1898), war unbestritten eine der interessantesten Frauen ihrer Zeit und galt als das Schönheitsideal einer ganzen Epoche. Sich ihrer Schönheit und Ausstrahlung wohl bewusst, setzte Sisi diese auch sehr gezielt ein und pflegte eigensinnig und kompromisslos ihr äußeres Erscheinungsbild, wie es in zahlreichen Büchern nachlesbar ist.

 

Auf Sisi wurde die Öffentlichkeit erst mit ihrer Heirat mit Kaiser Franz Josef aufmerksam. Bis dahin führte sie ein unbeschwertes und ziemlich freies Leben auf dem Land. Aber je mehr sie sich dem höfischen Etikett unterwerfen sollte und je mehr das Volk von ihr wissen wollte, desto mehr begann sich die Kaiserin zurückzuziehen: sie ließ sich immer seltener malen oder fotografieren, sie versteckte sich hinter ihrem Fächer, sie unternahm immer zahlreichere Reisen und stundenlange Wanderungen und sie wurde melancholisch und depressiv und begann schwarze Kleidung zu bevorzugen. (Ab dem Suizid ihres Sohnes Kronprinz Rudolf trug die Kaiserin nur noch schwarz.)
Ein weiterer Grund, dunkle Kleidung zu tragen, war für die Kaiserin ihr besonders stark ausgeprägter Schlankheitswahn. Ihre äußerst kargen Mahlzeiten bestanden manchmal nur aus 1 Glas warmer Ziegenmilch am Tag. Sie turnte täglich mehrere Stunden und ließ sich sogar, um eventuell "auftragende" Falten zu verhindern, in ihre Kleidung regelrecht einnähen.

Von der Kaiserin zu Pferd gibt es leider nur wenige Fotos und diese wurden der Einfachheit halber vielfach reproduziert. Der Grund dafür liegt zum einen daran, dass sie sich, wie bereits erwähnt, nur sehr ungern fotografieren ließ und zum anderen, weil die Fotografie selbst noch in den Kinderschuhen steckte. (Das erste brauchbare Verfahren für die Fotografie wurde 1839 erfunden - mit einer Belichtungszeit von bis zu 15 Minuten - das für Farbfotografien erst um 1907.)
Dass gerade die Kaiserin Elisabeth gerne als das Vorzeigeideal für das Reiten im Damensattel genannt wird, ist nicht verwunderlich. Sisi ritt bereits von Kind an, sie lernte und beherrschte nicht nur zahlreiche Zirkuslektionen, sondern auch die hohe Schule der Dressur bis hin zur Piaffe und Passage, und sie ritt sogar Schulen über der Erde (Levade, Ballotade und Courbette) – und alles im Damensattel. Wie sie es bei den zahlreichen Hetzjagden, an denen sie gerne teilnahm bewieß, stellte sie mit ihrem Können und ihrer Courage auch die meisten ihrer männlichen Reitbegleiter weit in den Schatten.

Sisi war zweifellos die beste Reiterin ihrer Zeit!

So gesehen war Sisi in zweifacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: ihre Gardarobe, die auf ihre Bedingung hin elegant, schlicht und einfach zu sein hatte, entsprach nicht der Mode der Zeit, und auch als hervorragende Reiterin war die Kaiserin ihrer Zeit weit voraus.

Reiten als Zeitvertreib kam erst im 18. Jahrhundert auf und war nur der obersten privilegierten Gesellschaftsschicht zugänglich. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Lebensstandard für einige Schichten so weit verbessert, dass die Menschen mehr Zeit für Freizeitaktivitäten hatten, aber erst im ausgehenden 19. Jahrhundert begann der Reitsport auch dem Normalbürger zugänglich zu werden. (Auch der Ausdruck "Sport" wurde erst im 19. Jahrhundert gebräuchlich.)

 

Generell war die Reitkleidung stets eine Zweckkleidung und entsprach immer der jeweiligen Zeitmode, mit wenigen, den Erfordernissen entsprechenden Vereinfachungen.
Im 18. Jahrhundert trug die Frau noch den Reifrock, auch zu Pferd. Nach 1850 wurde ein Reitrock getragen, der auf der linken Seite bis zum Sporen reichte, rechts aber wesentlich länger war und zum Gehen auf gleiche Länge hochgeknöpft wurde und ab Anfang des 20. Jahrhunderts trug die Frau einen langen Rock, bald darauf einen langen, weiten Hosenrock oder einen in der Mitte vorne oder hinten bis über die Knie zuknöpfbaren Rock. Zur klassischen Reitkleidung gehörte bis in die 1930er Jahre ein links etwas kürzerer, geschlitzter Rock. Unter all diesen Rockformen wurden Kniehose und Stiefel oder Stiefeletten getragen, dazu eine lange Schoßjacke in Herrenfasson mit modischen Ärmelformen. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte das Korsett auch beim Reiten noch zur Unterbekleidung der Frau. So unterschied sich die Sportkleidung der Damen bis auf kleinere praktische Änderungen kaum von der Stadtkleidung!

Mit dem Beginn des 1. Weltkrieges verschwand der Damensattel zur Gänze aus dem Alltagsbild. Nach dem Weltkrieg, als man wieder Zeit für sportliche Aktivitäten fand, nahm die Frau die Reithosen des Mannes an und damit auch den Herrensattel. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann "Frau" sich wieder für den Damensattel und eine ihm entsprechende Reitkleidung, nach altem historischem Vorbild, zu interessieren. Aber ab wann gilt ein Kostüm jetzt als "historisch"?

Ein wirklich echtes historisches Kostüm würde nur jenes sein, das aus der entsprechenden Zeit stammt. Undenkbar, sich mit einem solch kostbarem Stück aufs Pferd zu setzen! Also reitet man mit Kostümen, die der damaligen Zeit nachempfunden werden. Außer für ganz spezielle Film- oder Fotozwecke würde es heute niemanden mehr einfallen einen Reifrock zu tragen, oder ein Korsett. Die meisten der damals sehr aufwendigen Reitkostüme waren noch mit der Hand genäht und jede von uns wird einen verdeckt genähten Reißverschluss einer endlos langen Reihe von kleinen Knöpfen vorziehen. Auch unter dem Reitkostüm wird heute eine ganz normale, moderne Reithose getragen.

Demzufolge gibt es nur eine Schlussfolgerung: Ein Reitkostüm gilt dann als nach historischem Vorbild gültig, wenn es den Mode-, Moral- und Sittenvorstellungen der damaligen Zeit entspricht. Und wenn man dazu bedenkt, dass damals wie heute "Frau" zwar immer gern modern, aber gleichzeitig auch individuell sein möchte, so sind der Kreativität und der Erscheinungsform weit weniger Grenzen gesetzt, als uns die Erinnerung an Kaiserin Elisabeth glauben machen lässt.

 

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